Ich war schon immer ein leidenschaftlicher Fußballer und Läufer. Aber wie bei so vielen Fußballern fingen auch bei mir irgendwann die Knieprobleme an. Also entschied ich mich vor 5 Jahren spontan dazu ein gebrauchtes Rennrad zu kaufen und auf den Radsport umzusteigen.
Als damaliges Mitglied bei Bayer Uerdingen trat ich wenig später auch der Radsportabteilung bei. Das Rennradfahren entwickelte sich in der Folgezeit zu einer regelrechten Sucht. Beim Gevelsberger Radmarathon lernte ich 2019 schließlich Dirk Hörning (Vorsitzender des Grenzfahrer e. V.) kennen und wechselte Ende 2020 zu den Grenzfahrern.
Schon ziemlich zu Beginn in meiner „Radsportkarriere“ hat man mir gesagt, dass jeder Rennradfahrer mindestens einmal den Ötztaler Radmarathon gefahren sein muss. 236 km und 5.500 HM mit den Anstiegen Kühtai, Brenner, Jaufenpass und das finale Timmelsjoch gilt es dabei zu bewältigen. Allein letzteres hat auf einer Länge von 30 km gut 1.800 HM. Laut Eigenwerbung des Veranstalters eines der härtesten Amateurradrennen in Europa, bei dem die ca. 4.000 Startplätze überwiegend nur per Losverfahren vergeben werden.
Nach zwei vergeblichen Anläufen einen Startplatz zu ergattern war es dann Ende August 2021 endlich soweit. Die Vorbereitungen auf das Rennen verliefen das ganze Jahr über ohne nennenswerte Probleme. Drei Wochen vor dem Ötzi absolvierte ich mit „Rhön 300“, einen Radmarathon über 300 km und 5.150 HM, noch einen letzten Härtetest.
Mit bis dato etwas über 14.000 Radkilometern in den Beinen reiste ich knapp eine Woche vor dem Start nach Sölden.
Die Vorzeichen für das Rennen am Sonntag standen insgesamt nicht so gut. Aufgrund eines Felssturzes auf dem ersten Teilstück zum Kühtai musste die Streckführung über den Haiminger Berg, einem sehr giftigen Anstieg mit permanenten Steigungsraten zw. 11 und 14 % auf den ersten 7 Kilometern, umgeleitet werden. Dadurch waren 10 km und 300 HM mehr zu absolvieren, was für die meisten Starter eine Verlängerung der Fahrtzeit zwischen 40 und 50 Minuten bedeutete. Aufgrund dessen wurde die Startzeit auch von 6:45 Uhr auf 6:30 Uhr vorverlegt. Hinzu kamen die bescheidenden Wetteraussichten am Renntag, denn beim Fahrerbriefing am Vorabend hatte die Wetterfee Dauerregen bei einstelligen Temperaturen vorhergesagt.
Am nächsten Morgen begab ich mich um 5:15 Uhr zur Startaufstellung. Entgegen der Vorhersagen war es zwar kalt, aber dafür wenigstens trocken. Ich wollte so weit wie möglich vorne stehen und hoffte so, auf der schnellen Abfahrt nach Oetz schon am Start einige der übermotivierten und hektischen Fahrer hinter mir zu lassen. Pünktlich um 6:30 Uhr ertönte der Startschuss und knapp 2.800 Radsportverrückte begaben sich auf die Strecke. Fast 1.000 Startberechtigte hatten aufgrund des angekündigten schlechten Wetters auf einen Start verzichtet.
Nach 37 Minuten erreichte ich unbeschadet den Kreisverkehr in Oetz, wo normalerweise der Anstieg zum Kühtai beginnt. Dieses Jahr ging es aber noch weiter am Oetztaler Bahnhof vorbei Richtung Innsbruck und dann rechts ab in den Haimingerberg. Der Anstieg ist gut 10 km lang bei exakt 1.000 HM. Nach 57 Minuten hatte ich den Scheitelpunkt erreicht und von dort ging es ein kurzes Stück runter zum Ochsengarten und anschließend weiter hoch zum Kühtaisattel. Oben herrschte eine Temperatur von gefühlt 3 Grad. Eine Zuschauerin half mir in meine Regenjacke, die mich auf der schnellsten und längsten Abfahrt des Rennens vor dem Auskühlen schützen sollte. Die Labestation hatte ich vorher ausgelassen. Das Wetter spielte weiter mit, so dass die Straße und mit ihr die gefürchteten Weidegitter trocken waren. Hier erreichte ich eine Spitzengeschwindigkeit von 97 km/h.
Unten in Kematen angekommen befand ich mich in einer ca. 15 Mann starken Gruppe wieder, deren Mitglieder die 10 km bis Innsbruck ordentlich aufs Tempo drückten. Kurz danach begann der Anstieg zum Brenner. Hier wird einem im Vorfeld empfohlen eine gute Gruppe zu finden, um auf dem 36 km langen Pass mit seinen 770 HM so viele Körner wie möglich zu sparen. Das ist aber immer leichter gesagt als getan. Mit ca. 40 Gleichgesinnten fuhr ich die Brennerstraße hinauf, die zu Beginn eine stetige Steigung von 4 bis 5 % aufweist. Hier war mir das Tempo im Hinblick auf meine Renntaktik eigentlich zu hoch, aber hinter mir kam niemand mehr und so blieb mir nichts anderes übrig als das Tempo mitzugehen. Ungefähr in der Mitte des Anstiegs zum Brenner spürte ich den Ansatz eines Krampfes im rechten Oberschenkel. Ich holte sofort 2 Salztabletten aus meiner Trikottasche und spülte sie zerkaut mit viel Flüssigkeit herunter. Offensichtlich konnte ich so einen richtigen Krampf gerade noch verhindern.
Oben am Brenner musste ich mich das erste Mal verpflegen; beide Trinkflaschen waren leer. Bei der Gelegenheit stopfte ich gleich auch zwei Käsebrote und eine Laugenstange in mich hinein. Leider verliert man an den Verpflegungsstationen Corona bedingt sehr viel Zeit. In früheren Jahren konnte man mit dem Rad direkt an die Stände heranfahren. Jetzt musste man erst sein Rad abstellen, die Maske aus dem verschwitzten Trikot heraussuchen und dann noch eine Art Einbahnstraßen-system durchlaufen. Die anwesende Security achtete sehr darauf, dass sich jeder Teilnehmer auch korrekt verhielt.
Nach der anschließenden, leider viel zu kurzen Abfahrt erreichte ich Sterzing, wo der Aufstieg zum Jaufenpass begann. Spätestens ab hier fährt und kämpft jeder für sich allein. Der Pass hat eine konstante Steigung von ca. 8 % und lässt sich daher sehr rhythmisch fahren. Trotzdem zog er sich für mich wie Kaugummi und ich war froh als ich die Baumgrenze erreicht hatte. Ich wusste aus dem Rennradurlaub im Herbst des vergangenen Jahres, dass es nun bis zum Überqueren der Passhöhe nicht mehr weit war. Unterhalb dieser befand sich die 3. Labestation, wo ich ebenfalls eine kurze Verpflegungspause einlegte. Die anschließende Abfahrt auf der abgesperrten Strecke und unter weiterhin trockenen Bedingungen war ein Traum. Es machte richtig Spaß, die Kurven unter Missachtung des Rechtfahrgebots in tiefer Aeroposition herunter zu fegen.
In St. Leonhard wartete mit dem Anstieg zum berühmt-berüchtigten Timmelsjoch der selbsternannte Scharfrichter des Rennens. Hier heißt es eigentlich noch mal alles rauszuhauen, was der Körper bzw. die Beine so hergeben. Mein Wahoo zeigte mir hier eine Temperatur von 20 Grad an. Für den nun beginnenden Aufstieg war ich mit Arm- und Beinlingen sowie Regenüberschuhen eigentlich viel zu warm angezogen, aber zum Ausziehen hatte ich keine Zeit und Lust, zumal ich auf 2.000 Metern wieder recht kühle Bedingungen erwartete.
Die Strecke lässt sich gut in drei Teilstücke aufteilen. Von St. Leonhard bis nach Moos, von Moos bis zur Labe in Schönau und von dort bis zur Passhöhe. Die Beine waren zwar schon etwas angeschlagen, aber es lief bis zum Erreichen des letzten Tunnels vor dem Gipfel ganz gut. Von dort an ging es mit gemäßigter Steigung weiter bis auf 2.500 Meter. Oben angekommen wieder ein kurzer Stopp, um mir erneut von einem Zuschauer in die Regenjacke helfen zu lassen. Mittlerweile begann es sich zuzuziehen und es setzte leichter Eisregen ein. Die Abfahrt war im oberen Teil sehr windig und kalt. Der knapp 2 km lange Gegenanstieg zur Mautstation erforderte noch einmal eine letzte Kraftanstrengung und danach genoss ich die letzten Kilometer auf der Abfahrt von Hochgurgl bis nach Sölden in vollen Zügen. Mittlerweile war es kurz vor halb fünf am Nachmittag und noch immer säumten viele Zuschauer in Sölden die Straßen. Sie feuerten jeden einzelnen Teilnehmer ordentlich an. Nach 9 Std. 54 Min. durchfuhr ich schließlich den Zielbogen, was den 455. Gesamtrang und 58. Platz in meiner Altersklasse bedeutete.
Schlussendlich war ich mit der Zeit bei meinem allerersten Ötzi sehr zufrieden. Ich war trotz der eingangs erwähnten Umleitung über den Haimingerberg unter 10 Stunden geblieben. Unter normalen Umständen wäre sogar eine Zeit von 9:10 oder 9:15 Std. möglich gewesen. Ca. eine halbe Stunde nach meiner Zieldurchfahrt setzte ergiebiger Dauerregen ein. Puh, da hatte ich noch mal Glück gehabt. Im kommenden Jahr möchte ich wieder am Ötztaler Radmarathon teilnehmen. Er hat mich absolut in seinen Bann gezogen.
Dirk W.
Hier noch ein Bild vom Training, vor der Schlacht …..